Corona: "Das kann schlimmstenfalls noch Jahre so gehen"

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Im Friedberger Gesundheitsamt gehen seit Februar die Uhren anders. Nicht mehr Medizinalaufsicht, Hygienekontrollen, Schuleingangsuntersuchungen oder ärztliche Gutachten stehen im Mittelpunkt, auch die Belehrungen für Menschen, die mit Lebensmitteln hantieren, sind ausgesetzt. Alles folgt den Erfordernissen der Corona-Pandemie.

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Fast alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Fachdienstes Gesundheit und Gefahrenabwehr sind in irgendeiner Weise mit dem Thema befasst. Wir haben mit Amtsarzt Dr. Reinhold Merbs über die zusätzlichen Belastungen gesprochen.

Worauf führen Sie das zurück, dass bei uns so wenige Menschen eine stationäre Behandlung benötigten?
Dr. Reinhold Merbs: "Das hat ganz eindeutig etwas mit dem Alter der positiv getesteten Personen zu tun. Das liegt heute um 20 Jahre niedriger als in den ersten Wochen der Pandemie. Mit anderen Worten, das Virusgeschehen findet derzeit vor allem bei Jugendlichen, jungen Erwachsenen und Menschen unter 60 Jahren statt und nicht bei den bekanntermaßen vulnerablen Gruppen. Die erste Welle hat auch gezeigt, dass die Personen, die bei uns gestorben sind, im Durchschnitt 83 Jahre alt waren. Jetzt, wo die Infektionen bei jungen Personen stattfinden, die oftmals gar keine Symptome haben, haben wir natürlich auch deutlich weniger Menschen, die in ein Krankenhaus müssen oder gar einer intensiv-medizinischen Behandlung bedürfen."

Das hört sich doch erstmal beruhigend an!
Dr. Reinhold Merbs: "Die Situation kann sich aber schlagartig ändern, wenn sich das Virus wieder in die Einrichtungen einschleicht, etwa über Beschäftigte oder Besucherinnen und Besucher."

Deshalb monitoren Sie auch jeden Krankentransport aus den Altenheimen?
Dr. Reinhold Merbs: "Genau. Das ist eine unserer Strategien, um frühzeitig das Infektionsgeschehen in den Griff zu bekommen. Wir verfolgen im Prinzip jeden Menschen, der aus einem Altenheim in ein Krankenhaus kommt. Wenn da der Verdacht auf das Virus besteht, könnte es ja sein, dass er im Altenheim dieses Virus akquiriert hat. Deshalb schauen wir, wo die Leute herkommen und fragen im Altenheim genau nach und setzen eine intensive Beobachtung oder gar eine Testung an, um herauszufinden, ob weitere Menschen infiziert sind."

Es gibt die verbreitete Meinung, dass viel mehr getestet werden müsse.
Dr. Reinhold Merbs: "Das ist meines Erachtens eine populistische Aussage, die medizinisch überhaupt nicht sinnvoll ist. Wir beschränken die Tests von Anfang an auf die Menschen, die symptomatisch sind. Wir beschränken sie auf die Menschen, die aus epidemiologischen Gründen bei uns in den Fokus geraten, zum Beispiel Kindertagesstätten, Schulen, Altenheime, oder wo Strukturen dranhängen, die dann wiederum von Schließungen bedroht sind."

Nennen Sie ein Beispiel.
Dr. Reinhold Merbs: "Eine Mutter wurde positiv getestet und das Kind ist schulpflichtig. Da kann man eigentlich davon ausgehen, dass das Kind auch positiv ist, deswegen testen wir das Kind auch. Wenn das Kind dann in den letzten Tagen in der Schule war, müssen wir davon ausgehen, dass es das Virus weitergetragen hat. Wir müssen dann die Testmaßnahmen weiter ausbauen. Wird das Kind nicht positiv getestet, dann besteht die Hoffnung, dass es das Virus in der Schule nicht weitergegeben hat und es gibt erst einmal Entwarnung für die Schule. Die regelmäßigen Tests für Lehrer und Personal in den Schulen halte ich für wenig sinnvoll. Damit erreichen wir doch nicht, dass das Infektionsgeschehen steuerbar wird, eher sogar im Gegenteil. Denn durch solche Massentests werden Laborkapazitäten massiv in Anspruch genommen, die wir dann brauchen, wenn wir tatsächlich einen Verdachtsfall haben und wir schnell ein Ergebnis haben wollen. Es nutzt überhaupt nichts, wenn wir eine ganze Woche auf das Ergebnis warten und der Mensch dann möglicherweise seiner Arbeit nachgeht, in die Schule oder in den Kindergarten geht und das Virus in dieser Zeit weiterträgt. Wenn wir heute eine größere Abstrichaktion planen, beispielsweise in einer Kindertagesstätte oder in einer Schule, dann melden wir das beim Landeslabor in Dillenburg an und sichern uns vorab die Laborkapazitäten. Dann bekommen wir in der Regel innerhalb von 24 Stunden die Ergebnisse."

Die verzögerte Übermittlung von Ergebnissen war ja ein Kritikpunkt nach den Massentests von Reiserückkehrern.
Dr. Reinhold Merbs: "Ja, genau. Das hat einfach etwas mit den Laborkapazitäten zu tun. Wenn wir solche Abstriche machen, haben wir in der Regel über das Landeslabor am nächsten Tag die Meldungen, und jeder wird über das Ergebnis seines Tests informiert. Grundsätzlich gilt aber, dass wir als Gesundheitsamt von den Testcentern nur über alle positiven Tests informiert werden."

Das Gesundheitsamt hat selbst keine Kapazitäten, um im größeren Umfang Tests durchzuführen? Testcenter der Kassenärztlichen Vereinigung gibt es in Gießen, Wetzlar, Frankfurt und Gelnhausen. Für Wetterauer ist das ein ziemlich weiter Weg.
Dr. Reinhold Merbs: "Ja. Da haben Sie Recht. Deshalb stehen wir in Verbindung mit der Kassenärztlichen Vereinigung, auch im Wetteraukreis an zentraler Stelle ein solches Testcenter einzurichten, das wir gemeinsam betreiben wollen. Die ersten Gespräche sind schon im Gange."

Wie geht es weiter?
Dr. Reinhold Merbs: "Die Hausarztpraxen müssen zunächst einmal den Normalbetrieb eines Kassenarztes aufrechterhalten. Wegen der räumlichen Situation können sie den infektiologischen Part in ihren Praxisräumen nicht mitübernehmen. Deshalb brauchen wir eine Überweisungspraxis, ein Testcenter, in dem solche Abstriche unter den entsprechenden Sicherheitsbedingungen durchgeführt werden können. Damit wollen wir auch vermeiden, dass der normale Patient, der Diabetiker, der Bluthochdruckpatient oder der Patient, der zur Tumornachsorge kommt neben einem Menschen sitzt, der möglicherweise an Corona erkrankt ist. Diese räumliche Trennung müssen wir etablieren."

Wäre das eine Einrichtung der Kassenärztlichen Vereinigung?
Dr. Reinhold Merbs: "Es wäre eine gemeinsame Einrichtung. Wir würden mit eigenem Personal in einer Immobilie des Kreises diese Abstriche durchführen und somit zu einer massiven Entlastung der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte beitragen. Ich hoffe, dass die Verhandlungen bald abgeschlossen sind. Ansonsten ist die Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Ärzten und mit der Kassenärztlichen Vereinigung hervorragend. Man kann immer wieder nur betonen, wir können stolz darauf sein, dass wir so ein gut funktionierendes System haben."

Würden Sie eine Prognose abgeben, wie lange wir es noch mit dem Thema Corona zu tun haben werden?
Dr. Reinhold Merbs: "Die einzige Perspektive, die ich sehe ist, dass eine brauchbare, verfügbare Impfung kommt. Damit könnte man es abkürzen. Aber solange wir unsere vulnerablen Gruppen schützen müssen, weil bei diesen Personengruppen das Coronavirus eine lebensbedrohliche Krankheit auslösen kann, so lange werden wir mit dem Thema so umgehen müssen wie wir es jetzt tun. Das kann schlimmstenfalls noch Jahre so gehen."

Foto: Dr. Reinhold Merbs macht einen Mund-Nasen Abstrich.



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