Gericht überlastet: Mutmaßliche Gewalttäter aus U-Haft entlassen

Frankfurt
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Der 2. Strafsenat des Oberlandesgericht Frankfurt hat mit Beschluss vom 30. Juni 2022 Haftbefehle des Amtsgerichts Frankfurt am Main aufgehoben, weil der weitere Vollzug der Untersuchungshaft bei den vier Angeschuldigten mit dem in Haftsachen geltenden Beschleunigungsgebot nicht mehr zu vereinbaren war. Sie sind deshalb aus der Untersuchungshaft zu entlassen.

Der 1. Strafsenat hatte zuvor bereits mit Beschluss vom 24. Mai 2022 sowie vom 28. Juni 2022 ebenfalls Haftbefehle aufgehoben, weil der Vollzug der Untersuchungshaft gegenüber den zwei Angeschuldigten nicht mehr mit dem Beschleunigungsgrundsatz vereinbar war.

Die vier Angeschuldigten des Verfahrens vor dem 2. Strafsenat befanden sich zum Teil bereits seit knapp zwölf Monaten in Untersuchungshaft. Ihnen wird vorgeworfen, gemeinschaftlich versucht zu haben, zwei Menschen zu töten und sie dabei lebensgefährlich verletzt zu haben. Sie sollen sich nach vorangegangenen Streitigkeiten nachts am 3. Juli 2021 am Bahnhof in Frankfurt-Höchst mit den beiden Geschädigten getroffen und dann u. a. mit Stöcken auf diese eingeschlagen und sie mit Messerstichen lebensgefährlich verletzt haben.

Die Staatsanwaltschaft hat im Januar 2022 Anklage erhoben. Die zuständige Schwurgerichtskammer des Landgerichts Frankfurt am Main hat das Hauptverfahren gegen die vier Angeschuldigten bislang nicht eröffnen und terminieren können. "Dass ihr dies – auch fünf Monate nach Eingang der Anklageschrift – nicht möglich war und weiterhin auf absehbare Zeit nicht möglich sein wird, hat seine Ursache nicht in dem konkreten Verfahren selbst, sondern in der erheblichen – dem Präsidium des Landgerichts bereits im April 2022 auch angezeigten – strukturellen Überlastung mit zahlreichen Haftsachen, die auch bei nahezu täglicher Verhandlung nicht mehr zu bewältigen ist. Bislang ist keine Abhilfe geschaffen worden", heißt es in einer Pressemitteilung aus dem Oberlandesgericht.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts liegt bei einer solchen nicht nur kurzfristigen Überlastung kein wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO vor, der eine Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen könne. Beschuldigte in Untersuchungshaft müssten eine längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung eines Haftbefehls nicht in Kauf nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte zu genügen. Auch die beiden Angeschuldigten in den Verfahren des 1. Strafsenats befinden sich seit einem ¾ Jahr bzw. über einem Jahr in Untersuchungshaft. Dem einen Angeschuldigten wird versuchter Totschlag in Tateinheit mit schwerem Raub, dem anderen Angeschuldigten wird versuchter Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung vorgeworfen. Die Anklageerhebungen erfolgten Ende Januar 2022 bzw. Mitte Februar 2022. Der 1. Strafsenat hatte die Haftbefehle bereits aus denselben Erwägungen aufgehoben wie der 2. Strafsenat. Die Entscheidungen sind nicht anfechtbar.

Anlässlich der Aufhebung von Untersuchungshaftbefehlen durch das Oberlandesgericht (OLG) erklärte der hessische Justizminister Prof. Dr. Roman Poseck (CDU) in Wiesbaden: „Ich bedauere es sehr, dass Verfahrensverzögerungen beim Landgericht Frankfurt am Main zur Aufhebung von Haftbefehlen geführt haben. Das ist ein schlechtes Signal in unserem Rechtsstaat, der für eine konsequente Strafverfolgung stehen sollte. Das Landgericht Frankfurt am Main hatte 2021 eine Belastung im richterlichen Dienst von 111,80 % (hessenweit: 118,98 %). Für das laufende Jahr ergibt sich hochgerechnet eine Belastung von 110,67 % (hessenweit: 117,31 %). Die Verteilung der richterlichen Aufgaben bestimmt das Präsidium in richterlicher Unabhängigkeit. Nach Auskunft des Landgerichts Frankfurt am Main wurden die beiden betroffenen Kammern durch gestern getroffene Entscheidungen des Präsidiums deutlich entlastet. Dem Landgericht sind zum 1. Januar 2022 drei neue Planstellen zugewiesen worden. Seit Jahresbeginn konnten bis heute zehn Neueinstellungen von Richterinnen und Richtern auf Probe bei dem Landgericht vorgenommen werden. Es ist mir ein wichtiges Anliegen, die Gerichte durch weitere zusätzliche Stellen personell deutlich zu stärken. Davon wird auch das Landgericht Frankfurt am Main signifikant profitieren. Ich habe die Obleute im rechtspolitischen Ausschuss heute über die Fälle aus Anlass der gestrigen Entscheidung des OLG unterrichtet.“



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